Bundesministerin der Justiz Sabine Leutheusser-Schnarrenberg zu Missbrauchs-Fällen
Bundesministerin der Justiz Sabine Leutheusser-Schnarrenberg zu Missbrauchs-Fällen
Berlin. (red / and). 26. März 2010. Zu den zahlreich bekanntgewordenen Fällen von Missbrauch von Kindern in privaten, staatlichen und weltlichen Einrichtungen hat die Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) eine Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Die Ministerin mahnt, dass mit der Situation mit Verantwortung, sorgsam und ernst umgegangen werden müsse. In ihrer Rede sprach die Ministerin auch zu Konzepten wie einem runden Tisch und die Diskussion über eine mögliche Verjährung. Entscheidungen müssten auch die Verantwortlichen in den betroffenen Institutionen treffen.
Die Rede von Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:
“Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in Institutionen privater und kirchlicher Art sowie im familiären Umfeld muss man nicht nur sehr verantwortungsbewusst, sondern auch sorgfältig und ernst umgehen. Da helfen keine vordergründigen Vorschläge, dass jetzt die Bundesregierung anfangen solle, das halbe Land vorzuladen und zum Rapport zu bitten.
Ich denke, Frau Künast, in Hamburg werden Sie sich dafür eingesetzt haben, dass entsprechende Angebote gemacht werden, wie es gerade auch in Bayern, in der Bayerischen Staatsregierung geschieht. Es ist wichtig, dass nicht nur die Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht wird. Wir sind froh über alle Anregungen und greifen sie gerne auf.
Eines ist doch auch selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der runde Tisch – es gibt ja gute Vorbilder für die Wirkungskraft runder Tische; ich erinnere in diesem Zusammenhang an die deutsche Einheit – ist die Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Kräfte zusammenzubringen, um über zwei wichtige Bereiche zu reden und dort zu Empfehlungen und Vorschlägen zu kommen. Nie und nimmer kann dies aber die Arbeit der Regierung und die wichtige Aufgabe des Parlaments ersetzen. Die Diskussion unter den Beteiligten kann aber wichtige Anstöße geben. Man wird von den Vertretern der betroffenen Institutionen fordern, nicht nur alles zu tun, damit weiter aufgeklärt wird, sondern auch eine Untersuchung der Strukturen in den jeweiligen Einrichtungen vorzunehmen, damit es zu Verbesserungen kommt, damit früher aufgeklärt wird und Informationen früher an die Staatsanwaltschaft vor Ort weitergegeben werden. Wenn die Informationen möglichst früh – sobald man Anhaltspunkte hat – weitergegeben werden, wenn nicht interne Untersuchungen eine frühe Weitergabe verhindern, dann haben wir die Chance, die Verantwortlichen wirklich zur Rechenschaft zu ziehen. Es muss ein Ergebnis des runden Tisches sein, zu entsprechenden Veränderungen bei den jeweiligen internen Strukturen zu kommen.
Herr Scholz, Sie haben die Frage angesprochen: Was ist mit dem Parlament? Natürlich muss auch das Parlament am runden Tisch vertreten sein. Die Parlamentarier ergänzen die Vertreter von Organisationen und gesellschaftlich relevanten Einrichtungen, die eingeladen werden. Meine Kollegin, Frau Schröder, hat schon eine entsprechende Liste vorgelegt und den 23. April als Termin festgelegt; eine Einladung ist bereits herausgegangen. Wir drei Ministerinnen, jeweils für einen Bereich zuständig, werden jetzt, nach dem Kabinettsbeschluss, den Teilnehmerkreis des runden Tisches erweitern, weil der runde Tisch mehr Aufgaben bekommen hat. Er wird über die Aufarbeitung der Vergangenheit – ein wichtiges zweites Standbein -, die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, rechtspolitische Folgerungen und mögliche Rechtsänderungen debattieren. Selbstverständlich muss auch das Parlament bei diesem runden Tisch vertreten sein.
Wir werden hier unabhängig von dem, was der runde Tisch und die unabhängige Beauftragte zu leisten in der Lage sind, Debatten zu diesem Thema führen; denn wir wollen, dass gerade durch die Diskussion eine öffentliche Debatte erzeugt wird, die dazu führt, dass in den Institutionen selbst für Änderungen gesorgt wird.
Um an dieser Stelle die katholische Kirche anzusprechen: Hier geht es auch um interne Richtlinien, die bisher nicht so klare Anweisungen enthalten haben; Vertreter der katholischen Kirche, gerade auch aus Bayern, haben jetzt aber Änderungen gefordert. Der runde Tisch kann hier Unterstützung geben und diesen Prozess befördern. Weder der runde Tisch noch das Parlament können aber die notwendigen Entscheidungen ersetzen, die von den Verantwortlichen in den Institutionen getroffen werden müssen.
Wir können einen Beitrag leisten, indem wir Vorschläge unterbreiten, wie Strukturen so verbessert werden können, dass sich Kinder und Jugendliche, die sich in Abhängigkeitssituationen befinden, trauen, zu den Ansprechpartnern und Anlaufstellen zu gehen. In welch einer fürchterlichen Situation befinden sich diese jungen Menschen! Sie haben vielleicht Angst, sich an ihre Eltern zu wenden, weil sie befürchten, dort nicht ernst genommen zu werden. Sie trauen sich nicht, sich an einen Lehrer zu wenden, weil sie nicht wissen, wie das in der jeweiligen Einrichtung – in der Schule, im Internat, im Kloster, wo auch immer – behandelt wird. Sie brauchen also externe Ansprechpartner. Wir benötigen also vertrauensbildende Maßnahmen dieser Institutionen, damit die jungen Menschen sehen: Wenn es hier zu sexuellem Missbrauch kommt – er kann in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlicher Intensität stattfinden -, gibt es, wenn sich die Betroffenen nicht trauen, sich gleich an die Polizei oder an die Staatsanwaltschaft zu wenden, vertrauliche Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen, die mit den Informationen so umgehen, wie es der Situation angemessen ist. – Hier eine Struktur aufzubrechen, die das bisher nicht ermöglicht hat, ist ein ganz wichtiges Anliegen des runden Tisches.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir damit wirklich etwas bewegen können. Wir werden natürlich Debatten führen, die schon in der Vergangenheit geführt worden sind. Ich war Anfang der 90er Jahre Justizministerin, als wir im Parlament die Regelung verabschiedet haben, dass die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch erst mit dem 18. Lebensjahr des Opfers beginnt und abgestuft nach der Höhe der Strafan-drohung zehn und 20 Jahre beträgt.
Ich habe in den letzten Tagen viele Gespräche geführt, sowohl mit Beauftragten von betroffenen Institutionen, zum Beispiel des Jesuitenordens, als auch mit Beauftragten und Verantwortlichen außerhalb dieser Institutionen, die sich schon jetzt mit diesem Thema befassen. In diesen Gesprächen kam immer wieder zum Ausdruck, dass es für das Opfer am allerschlimmsten ist, wenn nach 20 oder 30 Jahren Informationen an die Staatsanwaltschaft gehen, der mögliche Täter die Tat nicht zugibt, es zu einem Gerichtsverfahren und zur Beweisaufnahme kommt, man sich auf konkrete Daten nicht mehr einlassen kann, weil die Erinnerung einfach nicht mehr da ist, und dann der Sachverhalt nicht mehr aufklärbar ist. Denn was bleibt dann? Es bleibt ein Opfer, das zum zweiten Mal zum Opfer geworden ist, weil es das Gefühl hat, dass ihm trotz eines Gerichtsverfahrens keine Gerechtigkeit widerfährt. Das muss bei der Debatte über die Länge und den Beginn von Verjährungsfristen im strafrechtlichen Bereich immer mit berücksichtigt werden. Deshalb bin ich hier so zurückhaltend. Ich glaube, wir müssen vor allem alles daransetzen, dass frühzeitiger aufgeklärt werden kann.
Aber es geht um sehr viel mehr. Es geht auch um die Frage: Wie gehen wir mit den Taten um, die verjährt sind? Was können wir noch für die Opfer tun, wenn zivilrechtliche Ansprüche verjährt sind? Eine vertrauensbildende Maßnahme könnte sein, dass die Verantwortlichen laut und deutlich sagen, dass sie das Eintreten der Verjährung außer Acht lassen. Das könnte schon ein wichtiger Schritt sein. Aber natürlich sind weitere Schritte notwendig. Diese müssen zusammen mit den Institutionen und den Verantwortlichen erörtert werden. Das kann einen Weg weisen und eine Perspektive eröffnen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass mit dem runden Tisch und der Berufung einer unabhängigen Beauftragten zwei gute Entscheidungen im Kabinett getroffen worden sind. Wenn wir hier ein gemeinsames Ziel verfolgen, dann sollten wir uns darüber unterhalten, welche Maßnahmen im Einzelnen getroffen werden müssen, aber nicht darüber streiten, ob ein runder Tisch richtig ist oder nicht.”
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